Neuraltherapie eine Form von Regulationstherapie


Univ.Doz. Dr.med. Otto Bergsmann   
         
Einführung
      

Neuraltherapie ist eine Form von Regulationstherapie. Sie will entgleiste Regelvorgänge auf verschiedenen Ebenen normalisieren. Besonders chronisch belastende, übergeordnete Faktoren sollen ausgeschaltet werden. Dazu setzt sie in erster Linie Lokalanästhetika nach verschiedenen Techniken ein.

Neuraltherapie ist keine ausserschulische bzw. alternative Methode, sondern Schulmedizin, eine komplementäre Methode, die als zweites Bein in der Therapie angesehen werden kann (erstes Neuraltherapiebuch von Doz. J. Schmidt der Fellingerklinik in Wien 1960 veröffentlicht).

Merke: Neuraltherapie, auch wenn sie erfolgreich ist, befreit nicht von der ärztlichen Pflicht der diagnostischen Abklärung!
     

    

Indikationen der Neuraltherapie
     
     
Alle funktionellen Beschwerdebilder vegetativ-nervaler oder somatisch-nervaler Natur.
  • bei rein funktionellen Störungen auch primär ohne weitere Zusatzmedikation möglich
  • bei Vorliegen von Pathomorphologien lediglich als Adjuvans
  • bei chronischen Leidenszuständen Lokaltherapie als Adjuvans, oft aber entscheidender Durchbruch erst durch Störfeldtherapie
        

    

Kontraindikationen der Neuraltherapie
    
      
AV-Block II-III und andere Überleitungsstörungen, Bradycardie, Herzmuskelschwäche III-IV, Überempfindlichkeit gegen Procain und Lidocain (äusserst selten), Myasthenia gravis (absolute CI).
    

    

Formen der Neuraltherapie
    
     
  1. Lokaltherapie
  2. Segmentaltherapie (ic, präperiostal, Triggerpunkte)
  3. Nervenstämme und Ganglien
  4. iv
  5. Techniken am Stütz- und Bewegungsapparat
  6. Störfeldanästhesie

Infiltrationen von Nervenstämmen und Ganglien sollen Fachärzten überlassen werden, bzw. müssen in extra Schulungen erlernt werden. Dasselbe gilt von invasiven Gelenkstechniken.
    

    

Physiologische Grundlagen
    
     
1. Metamer - segmentale Gliederung: Dermatom, Myotom sind aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen nicht deckungsgleich. Dies bei Palpation beachten!

2. Rezeptive Felder: An Überlappungszonen existiert eine grössere Sensibilität, daher ist es günstiger, hier den Therapieansatz zu wählen als ausserhalb. In denÜberlappungszonen liegen meist auch hochempfindliche Akupunkturpunkte.

3. Segmental regulatorischer Komplex: Alle Substrate eines metameren Segments sind miteinander gleichsinnig gekoppelt.

Bei Veränderung eines Substrates werden alle übrigen angeschlossenen gleichsinnig umgestellt. Dies wird in der Neuraltherapie ausgenützt:

  1. In der Therapie, z.B. beim Quaddeln oder bei präperiostalen Depots, Wirkung auch auf inneres Organ, Muskulatur, Durchblutung.
  2. Bei der Diagnostik, z.B. bei der Palpation -Turgor von Kutis und Subkutis, sowie der Tonus der Muskulatur geben Hinweise auf Funktionstörungen innerer Organe oder des Bewegungsapparates. Auch ein Störfeld verändert Kutis, Subkutis und Muskulatur in den entsprechenden Dermatomen und Myotomen.
  3. Als Therapiekontrolle: Eine erfolgreiche Therapie stellt Tonus und Turgor schlagartig zum Normalzustand um.

4. Gate Controll nach Melzack und Wall: Ihre Existenz ist allgemein anerkannt, nur über die Art der Wirkmechanismen wird noch diskutiert. Obwohl das Denkmodell von Melzack und Wall im Tierexperiment widerlegt wurde, erklärt es die meisten klinischen Beobachtungen.

Der Transmissionzelle des Hinterhorns ist eine Kontrollzelle vorgeschaltet. Afferenzen aus dünnen Fasern (vegetative Fasern werden besonders bei ic- und präperiostaltechnischen Applikationen erfasst), hemmen die Kontrollzelle ð öffnen das Gate ð alles geht ungefiltert durch ð daher wird das RM mit Informationen überschwemmt.

Afferenzen aus dicken Fasern (somatische Muskulatur) erregen die Kontrollzelle ð schliessen das Gate ð geringere Impulszahl erreicht das RM.

Die Überflutung lässt den Informationspegel über die Schmerzgrenze steigen. Die Drosselung entlastet das RM, der Informationspegel sinkt unter die Schmerzgrenze.

Quaddel, präperiostale Depots schalten vorwiegend dünne Fasern aus: verringern Impulszahl die Gate erreichen ð entlasten das RM ð Reduktion des Schmerzes.

Muskeltechniken: Schliessen Gate ð geringere Impulsanzahl gelangt in das RM ð Reduktion der Schmerzen.

5. Vertikale Gliederung des Rückenmarks: Segmental regulatorischer Komplex ist ein in jedem RM-Segment wiederkehrendes Schaltsystem. Der sympathische Grenzstrang ist segmental afferent und efferent angeschlossen.

6. Muskelverschaltung: Neben der spinal-segmentalen Zuordnung ist die somatische Muskulatur durch Pro-gramme im Interneuronpool des RM und des Zwischenhirns zu kinetischen Ketten verschaltet. Diese dienen der automatischen Durchführung von Komplex- bewegungen. Nicht nur die Alphamotorik folgt diesen

Programmen, auch die gammamotorische Tonusregulation erfolgt auf diesem Weg.

7. Tonisch algetische, pseudoradikuläre Symptome: Auch der reaktive Hypertonus folgt der kinetischen Kettenschaltung. Tonuserhöhung in einem Muskel der Kette breitet sich entlang der ganzen kinetischen Kette aus, tonisch-algetische-pseudoradikuläre Symptome entstehen. Diese sind unscharf begrenzt und überschreiten die Segmentgrenzen, daher sind Reizsymptome mitunter schwierig segmental einzugliedern.

Merke: In der Medizin gibt es keine Einbahnstras-se; nur Kreisverkehr!

Die Schaltsysteme über die die Symptome aufgebaut werden, sind auch entscheidend an der Therapie beteiligt.
      

      

Projektionssymptome reflektorische Krankheitszeichchen
     

Sie werden von allen Organen an charakteristischen Stellen ausgelöst und können palpatorisch, aber auch elektrisch und thermodiagnostisch festgestellt werden. Die Kenntnis der Projektionszonen erleichtert die Diagnostik und den Therapieansatz. - Regeln:
  1. Lateralitätsregel
  2. Metamerieregel
  3. Homolaterale Symptomerweiterung
  4. Generalisationsregel
  5. Seitenkreuzung
       

      

Wirkung der Lokalanästhetika
   
 
  1. Zellprotektive Wirkung
  2. Unterbrechung der Reizperzeption und Ausbrei-tung für die Dauer der Wirksamkeit
  3. Durchbrechung von positiven Feedbackmechanismen, Anregung und Normalisierung der Regulation wird ermöglicht (weit über die Zeit der Wirkungsdauer hinaus)
         

      

Maximaldosen der Lokalanästhetika
   

Lidocain 20 ml einer 1 % Lösung bei ca. 70 kg schweren Patienten

Procain 50 ml einer 1 % Lösung bei ca. 70 kg schweren Patienten
  

Nie 2 % Lösung verwenden wegen erhöhtem Perfusionsdruck, Gefahr der relativen Überdosierung!!

Merke: Einige Tropfen gewusst wo sind sinnvoller und wirkungsvoller als „Liter" irgendwohin!

Vor jede Therapie hat der liebe Gott die Diagnose gestellt! Auch erfolgreiche Neuraltherapie befreit nicht von der ärztlichen Pflicht der normalmedizinischen Abklärung. Andererseits sind oft Labormethoden und Röntgen ungeeignet, um Regulationsstörungen zu erfassen und Hinweise für den Therapieansatz zu geben.

Wichtig und hilfreich sind dabei drei Fragen:

  1. Welche Beschwerden werden angegeben?
  2. Welche gestörte Funktion löst die Beschwerden aus?
  3. Wo liegt der mögliche Starter der Funktionsstörung?

Zur Beantwortung der Fragen sind hilfreich:

  1. Dem Patienten zuzuhören und anamnestisch nachzufragen
  2. Den Patienten anzuschauen
  3. Palpation, die wichtigste Screeningmethode für die Diagnose, sie zeigt den Therapieeinstieg und auch den Therapieeffekt. Sie ist auch zur Störfeldsuche geeignet.


Der Therapieeinstieg erfolgt am günstigsten nach dem Palpationsbefund.

Wie soll eine Quaddel aussehen? Weiss, erhaben, Einstichwinkel: 30 Grad. In lockerer Haut ist es mitunter besser, die Nadelspitze anzusetzen und die Haut über die Nadelspitze zu ziehen.

Merke: Jedes Ding hat zwei Seiten, auch unser Patient! Daher immer vorne und hinten behandeln!

Bei der Quaddeltherapie ist es günstig, sich an den Palpationsbefund zu halten; das erspart viele Quaddeln.

Hier einige Quaddelwürfe; es werden an dieser Stelle nur einige praxisbezogene Hinweise gegeben.

1. HWS: Immer bei leichter Retroflexion arbeiten.Keine tieferen Techniken ohne genaue Anatomiekenntnisse und ohne Aspiration! Kopfstörfelder suchen und mitbehandeln. Quaddelreihe paraspinal, immer auch im Winkel von Mastoid und Occiput und im Winkel von Erektor und Occiput.

2. Stirnhöhle: Quaddeln am äusseren Augenwinkel, über der Augenbraue und zwischen den Augenbrauen.

3. Dornenkranz: Basistherapie Kopfschmerz und zur Steigerung der Hirnleistung. 6 - 8 Quaddeln an der grössten Zirkumferenz des Schädels. Kann auch mit Laser durchgeführt werden.

4. Lungenfeld: „Hosenträger". Beiderseits vorne wie hinten eine Reihe von 4 - 6 Quaddeln entsprechend dem Verlauf der Hosenträger.

5. Auge: Dorsal G20 und B10 (Nackenpunkte) nicht vergessen!

6. Magen: Oft versteckt hinter einem linksseitigen Schulterarmsyndrom, dorsal WS-Funktionsstörung suchen und mitbehandeln.

7. Galle: Oft rechtsseitiges Schulterarmsyndrom oder rechtsseitiger Schläfenkopfschmerz. Postcholecystektomiesyndrom: Rippenbogen, Drainnarbe, pathologische Narbenstellen, sowie dorsale Funktionsstörungen im Bereich des thorakolimbalen Übergangs mitbehandeln.

8. Larynx: Oronasale Störfelder suchen!

9. Gelenke: Immer Nachbargelenke untersuchen, oft kommt der Starter von dort. Wieder ventral und dorsal behandeln. Bei Mitbeteiligung der Wirbelsäule oft Seitenkreuzung. Bandtechniken dem direkten Gelenkinfiltrieren vorziehen. Umgebung nach Triggern und Verspannungen absuchen und diese lösen.

Wirbelsäule: Sie ist bei Schmerzzuständen mit ihren vielen Störmöglichkeiten entweder primärer Auslöser, meist aber das Schaltsystem, das den störfeldbedingten Reizzustand als Spannungssymptomatik in eine bestimmte Körperregion projiziert. Daher immer versuchen, die Ursachen der Funktionsstörungen zu finden, z.B. Fehlstereotypie, Fehlstatik, Störfeld etc. Quaddelreihen entsprechend dem Verlauf der verspannten Muskulatur, über den Dornfortsätzen und Querfortsätzen gestörter Bewegungssegmente.

Ileosakralgelenk: Quaddelreihe über dem Verlauf des Gelenkes. Nicht vergessen: Auch über dem Unterbauch knapp proximal des Leistenbandes.

Kniegelenk: Quaddel in der Poplitea. Nicht vergessen: Quaddeln am Rande der Patella und über dem Gelenkspalt.

Sprunggelenk: Quaddelreihe über Gelenkspalt.

Schultergelenk: HWS, BWS untersuchen, sehr häufig ist dort der Starter. Quaddelreihe über grösster Zirkumferenz des Gelenkes.

Dorsalgie": Interscapularsyndrom: Alle Trigger nach Palpationsbefund, häufig Supra-, Infraspinatus-trigger, sowie der vom Levator scapulae.

Merke: Am Thorax beim tieferen Eingehen in die Muskulatur unbedingt die Intercostalräume mit den Fingern abdecken, um einen Pneumothorax zu vermeiden!
    

    

Störfeld (Herd)
     

Definition nach Kellner (histologisch): Chronische Entzündung um nicht abbaubares Material (Fremd-substanzen oder denaturierte körpereigene Substanzen). Sie besteht aus lymphozytärer, plasmazellulärer Infiltration und Desaggregation der Grundsubstanz.

Definition medizinisch: Verborgene,chronische Entzündung, die lokal oligo- bis asymptomatisch verläuft, aber in weit entfernten Körperarealen zu Fernsymptomen führt.

Definition kybernetisch: Reizquelle, die eine Regulationsumstellung bewirkt, auf deren Basis sich unter Einfluss eines zweiten Reizes oder eines Sekundärgeschehen Fernstörungen entwickeln können.

Hier unterscheiden sich Herd und Störfeld insofern, als beim Herd eine Entwicklung von Fernstörungen auch durch Mikroorganismen und ihre Abbauprodukte möglich ist.

Unterschied Herd/Störfeld: Beides sind chronische Entzündungen, doch der Herd unterscheidet sich vom Störfeld insofern, als er lebensfähige Mikroorganismen umschliesst.
    

    

Herdgeschehen
    
       
Störstelle - Gesamtlabilisierung der Regulation - Reizausbreitung primär homolateral - Prämorbiditäten - Zweitschlag - Fernstörungsmanifestation - Autonomisierung - Pathomorphologie.
       

      

Neuraltherapeutische Wirkmechanismen bei der Störfeldausschaltung
     
 
  1. Unterbrechung der entarteten Regelmechanismen und dadurch Möglichkeit zu deren Normalisierung.
  2. Akuisierung der chronischen Entzündung und dadurch Möglichkeit, deren Abheilung über ein Akutstadium (Erstverschlechterung nach Behandlung möglich). Jedoch nur wenn noch nicht zu chronifiziert, bzw. noch keine Pathomorphologien entstanden sind.

Diagnostische Erfassung des Störfelds über:

  1. Palpation reflektorischer Krankheitszeichen
  2. Apperative Methoden (thermisch, elektrisch)
  3. Probebehandlung mittels Umflutung mit Lokalanästhetikum (Störfeldtherapie)

Therapieergebnis einer Störfeldbehandlung und deren Bewertung:

1. Klassisches Sekundenphänomen: Die Schmerzen schwinden nach Störfeldanästhesie innerhalb kurzer Zeit (in „Sekunden") und bleiben mindestens 18 Stun- den weg. Bei Wiederholung reproduzierbar; Beschwerden verschwinden für lange Zeit = „definitives Sekundenphänomen".

2. Abortives Sekundenphänomen: Bei chronischen,

multiplen Beschwerden wird ein klassisches Sekundenphänomen nur selten erzielt. Meist reproduzierbare Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung.

3. Sekundenphänomen mit Rezidiv der Symptome:

Zwar immer wieder reproduzierbares Sekundenphänomen, aber immer wieder Rezidive in annähernd gleichen Intervallen. An chirurgische Sanierung des Stör- feldes ist zu denken.

4. Negatives Sekundenphänomen: Schmerzzunahme nach Störfeldanästhesie; Hinweis, dass man richtig liegt, doch noch irgend ein weiteres Störfeld beteiligt sein muss, das bisher nicht behandelt wurde.

5. Starter-Störfeld meldet sich: Bei symptomatischer Lokalbehandlung kann mitunter das auslösende Störfeld akuisiert werden und seinerseits Lokalsymptome verursachen. Auch bei Störfeldtherapie kann sich mitunter ein anderes Störfeld, das bisher nicht beachtet wurde, durch Schmerzen melden.

Merke: Ein Störfeld kommt selten allein! Das Beschwerdebild ist meist durch Interaktion mehrerer Störfelder bedingt, die in akribischer Kleinarbeit gefunden und behandelt werden müssen.

Dabei ist eine gute Zusammenarbeit mit dem Patienten förderlich. Es ist wichtig, ihn aufmerksam zu machen, auf das Therapieergebnis zu achten und die Mitteilungen des Patienten auch ernst zu nehmen.

Der Misserfolg in der Neuraltherapie liegt meist nicht in der Methode, sondern am Behandler, der noch irgend etwas nicht bedacht, berücksichtigt oder behandelt hat. Daher gilt der Leitsatz:

    

Zuerst denken und dann stechen!
     
    
Das Beschwerdebild unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Zusammenhänge und somatischen Verschaltungen analysieren.
    

    

Häufige Störfelder
     
     
Prinzipiell kann jeder Ort des Körpers Störfeld sein, besonders sind jedoch zu beachten: Oronasale Störfelder, wie Nasennebenhöhlen, Tonsillen, Mastoid, Zähne, Fistelnarben; Narben jeder Genese. Jede abgelaufene Entzündung, jedes Krankheitsgeschehen, das länger dauerte, „als es ihm zusteht".
    

    

Grenzen der Neuraltherapie
     
    
Symptome, die durch pathomorphologische Veränderungen entstanden sind, können nur symptomatisch behandelt werden. Dadurch ist aber evtl. zumindest Analgetikaminimierung möglich.

Symptome, die durch andere als herdbedingte Regulationsstörungen entstanden sind, können durch Normalisierung der Regelvorgänge beseitigt werden.
   

   

Literatur
      
    
O.Bergsmann, R.Bergsmann: „Einfache Neuraltherapie für die tägliche Praxis", Facultas Universitäts-Verlag

O.Bergsmann, R.Bergsmann: „Projektionssymptome", Facultas Universitäts-Verlag

P.Dosch: „Lehrbuch der Neuraltherapie", Haug Verlag

A.Pischinger: „Das System der Grundregulation", Haug Verlag


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Grundlagen, Fachliteratur, Fachzeitschriften, Lehrgänge

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