Diätetik in der traditionellen chinesischen Medizin |
Dr.phil. Ute Engelhardt |
Einführung |
Die Diätetik ist ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Medizin und gilt neben Akupunktur, Arzneimitteltherapie, manueller Therapie und Qigong (Bewe-gungstherapie) als fünfte "Säule" der TCM. In der chinesischen Medizin wurde die grosse Bedeutung einer angemessenen Ernährung sehr früh erkannt, und nicht umsonst zeichnete sich ein guter Arzt dadurch aus, dass er den Patienten mit diätetischen Mitteln behandelte und nur im Notfall auf Arzneimittel zurückgriff. Bisher ist jedoch das umfangreiche diätetische Wissen der Chinesen nur sehr
bruchstückhaft in unseren Kulturkreis vorgedrungen. Zum einen lag dies an einer
mangelnden Auseinandersetzung mit den chinesischen Originalquellen, zum anderen an der
ungenügenden Integration dieser Therapieform in das Gesamtgefüge der chinesischen
Medizin.
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Der neue Ansatz der chinesischen Diätetik |
Das Besondere an der chinesischen Diätetik ist, dass bei jedem Lebensmittel seine ganz spezielle Wirkung im menschlichen Organismus beschrieben wird. Anders als in der westlichen Ernährungswissenschaft, die auf der Analyse der in den einzelnen Nahrungsmitteln enthaltenen Nährstoffe basiert und sich im wesentlichen auf rein quantitative Angaben zu ihrer Zusammensetzung beschränkt, steht bei der chinesischen Diätetik die Beschreibung der Wirkung eines Lebensmittels im Vordergrund. Dieser komplementäre funktionelle Ansatz der chinesischen Diätetik ist massgeblich mit der energetischen Vorstellung der "Lebenskraft" Qi verknüpft. Das Spannungsfeld äusserer energetischer Einflüsse, dem jeder Mensch unterliegt, und das innere energetische Potential, das durch die sogenannten Funktionskreise bereitgestellt und mittels der Leitbahnen im Körper verteilt wird, nennen die Chinesen Qi. Ist das ausgewogene Verhältnis des Qi im menschlichen Organismus gestört, spricht man von Krankheit. Der gezielte Einsatz von Nahrungsmitteln kann diese Ausgewogenheit wieder herstellen; Nahrungsmittel sind also milde Therapeutika. Man bedient sich der Qi-Kraft eines Nahrungsmittels, um auf das Qi im menschlichen Organismus korrigierend einzuwirken. In der chinesischen Diätetik wird die Wirkung eines Lebensmittels nach folgendem Paradigma definiert: Das Temperaturverhalten (von kalt bis heiss) gibt Aufschluss über die energetische Dynamik eines Lebensmittels. Es zeigt an, ob ein Lebensmittel das Qi stark oder nur leicht bewegt. Kalte oder kühle Nahrungsmittel stellen Säfte bereit, verlangsamen die energetischen Prozesse, verfestigen, sammeln und wirken eher absenkend. Beispielsweise gelten Banane oder Wassermelone als kalt und Spinat, Birne und Gurke als kühl. Heisse oder warme Nahrungsmittel sind dagegen reich an aktiver Energie, sie dynamisieren, lösen, zerstreuen, beschleunigen und heben empor. Chili oder Pfeffer sind beispielsweise heiss, Zwiebel, Ingwer, Lauch und Pfirsiche warm. Neutrale Nahrungsmittel vereinigen kalte und warme in sich: Sie spenden Säfte, erhalten und stellen aktive Energie bereit. Hierunter fallen z.B. Hafer, Mais, viele Bohnenarten, Karotten, Kartoffeln. Da jedes Nahrungsmittel ein eindeutiges Temperaturverhalten hat, ist es gemäss dem klinischen Leitsatz anzuwenden: "Kühles wärme man, Warmes kühle man". D.h. dass man bei einer algor "Kälte"-Sympto-matik warme oder heisse Nahrungsmittel zu sich nehmen sollte, bei einer calor "Hitze"-Symptomatik dagegen kühle oder kalte. Ein weiteres Einordnungskriterium ist die Geschmacksrichtung (sapor), von salzig bis scharf. Sie bezieht sich zwar im wesentlichen auf das menschliche Geschmacksempfinden, gibt aber in der chinesischen Diätetik vor allem Aufschlüsse darüber, in welcher Tiefe (Schicht) ein Lebensmittel wirksam ist. So wird z.B. der Gurke eine süsse Geschmacksrichtung zugeschrieben, obwohl sie nicht süss schmeckt; vielmehr kommt in dieser Zuordnung ihre Säfte spendende und stützende Wirkung zum Ausdruck. Die einzelnen Geschmacksrichtungen sind:
Neben Temperaturverhalten und Geschmacksrichtung werden für jedes Nahrungsmittel zusätzlich noch zwei weitere Zuordnungskriterien angegeben: Die energetische Wirktendenz gibt an, ob ein Lebensmittel emporhebend oder absenkend, an der Oberfläche oder in der Tiefe wirksam ist. So wirken zum Beispiel Frühlingszwiebeln und Knoblauch emporhebend, Spinat und Sojabohne absenkend; Zimt und Chili sind an der Oberfläche wirksam, Tomate und Aubergine in der Tiefe. Der Funktionskreisbezug, auch Leitbahnbezug gibt Aufschluss darüber, in welchem
Funktionskreis bzw. in welcher Leitbahn das Lebensmittel seine Wirkung entfaltet.
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Anwendungsmöglichkeiten |
Nach diesem Schema werden in den einschlägigen chinesischen Quellen fast alle gebräuchlichen Lebensmittel beschrieben. Die Aussagen über die Wirk-richtung eines Nahrungsmittels sind wichtige Bausteine im Gesamtgefüge der chinesischen Medizin und ermöglichen ein genaues Abstimmen auf ihre anderen Therapieverfahren, wie z.B. Arzneimitteltherapie, Akupunktur oder Bewegungstherapien. Für uns im Westen ist diese qualitative Betrachtungsweise der Nahrungsmittel etwas völlig Neues, da wir sie bisher vor allem unter quantitativen Gesichtspunkten zu betrachten gewöhnt waren (mit Angabe der Kalorien und des Gehalts an Eiweiss, Fett, Kohlehydraten, Spurenelementen usw.). In der chinesischen Medizin ist das Wissen um die energetischen Wirkmöglichkeiten eines Nahrungsmittels unabdingbare Voraussetzung für einen gezielten therapeutischen Einsatz. So können auf dieser Basis individuelle Ernährungspläne sowohl zur Therapie als auch zur Prophylaxe erstellt werden, mit deren Hilfe die gesamte chinesische Therapie wesentlich besser greifen kann.
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Literaturangaben |
Engelhardt/Hempen, Chinesische Diätetik, Urban&Schwarzenberg 1997. |
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