Traditionelle Chinesische Medizin: Herausforderung und Chance


Dr.med. Josef Hummelsberger
     
Einführung
    
    
Über 60 % aller Patienten in Allgemeinarztpraxen klagen über funktionelle Beschwerden (z.B. allgemeines Unwohlsein, Schlafstörungen, chronisches Müdigkeitssyndrom, Schwindel), Schmerzen (z.B. Kopfschmerzen, Lumboischialgien) oder leiden unter chronischen Erkrankungen (z.B. rheumatoide Arthritis, Asthma bronchiale). All diese weisen keine messbaren Befunde auf, gelten als „nicht richtig krank", ihre Beschwerden können allenfalls gelindert werden.

Die TCM ist das älteste wissenschaftliche Medizinsystem. Im Gegensatz zur westlichen Medizin, die auf „harten" Messdaten und der Pathologie fusst, werden hier das Befinden, soziale, psychische und klimatische Faktoren beobachtet, qualifiziert und in einer „energetischen Diagnose" gewertet. Somatische Symptome sind so als energetische Entgleisungen zu erfassen. Durch die verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten (Akupunktur, Arzneimitteltherapie, Qi Gong, Diätetik) gelingt es, in die energetischen Prozesse modulierend einzugreifen. Auch für den Patienten entsteht so ein neues Verständnis, der sich mit all seinen Beschwerden wieder ernst genommen fühlt. Für eine Reihe von Indikationen ist die Erfolgsquote mit 60 - 80 % hoch.

Zunehmende Aufmerksamkeit gewann die TCM wie die anderen Naturheilverfahren durch die Suche nach Alternativen zur westlichen Medizin, die trotz zunehmendem diagnostischem und therapeutischem Aufwand (trotz aller unleugbaren Erfolge) kein erhöhtes Mass an Gesundheit erzeugte.

Ein persönlicher Grund für die Faszination durch die TCM ist für mich, dass hier eindeutig eine Vorstellung von Gesundheit, vom gesunden Menschen besteht - etwas Fehlendes in der westlichen Medizin die Abwesenheit von Krankheit oder mühsam mit der WHO-Definition laboriert.

In den folgenden Abschnitten werden die TCM, ihr Menschenbild, ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die einzelnen, diagnostischen Schritte und therapeutischen Verfahren kurz dargestellt.
    

    

Erkenntnistheoretische und methodische Voraussetzungen
    
    
Die chinesische Medizin ist eine wissenschaftliche Medizin. Die klinischen Erfahrungen wurden von chinesischen Ärzten über mindestens 2500 Jahre (Zeit der schriftlichen Überlieferung) minutiös gesammelt, notiert und in Kompendien ausgewertet. Dies erfüllt das Wissenschaftskriterium der positiven Empirie.

Um die Mitteilbarkeit und Vergleichbarkeit der Beobachtungen zwischen den Generationen von Ärzten zu schaffen, entstand aus einer zunehmenden Abstraktion eine eigene Sprache, deren Kernbegriffe nach Porkert Normkonventionen genannt werden.

Die klinischen Aussagen von Akupunktur und chinesischer Medizin wurden in einem rationellen Bezugssystem zusammengefügt, zunächst abstrakte Begriffe wie die „Funktionskreise" (zang fu) und „Leitbahnen" (jing mo) geschaffen. Durch die Einbettung der Einzeldaten in dieses strenge Bezugssystem ist das Kriterium der rationalen Vernetzung und der Systematisierung erfüllt. - Vereinfacht gesagt, wertet die westliche Medizin Messwerte und hat ein anatomisch-physiologisches Menschenbild, der Wissenschaftsansatz ist ein kausalanalytischer (deduktive Synthese); die TCM wertet Beobachtungen, hat ein energetisches Menschenbild und sieht die Gesamtheit (induktive Synthese).
    

    

Menschenbild, Physiologie und diagnostische Verfahren
    
    
Die chinesischen Ärzte verstehen den Menschen als Abbild natürlicher Harmonie, aufgespannt zwischen den Polen Yin und Yang; Himmel und Erde. Im Individuum fliessen harmonisch die Energie und die „Säfte", es herrscht zwischen der menschlichen und natürlichen Umwelt und dem Menschen Einklang - so entsteht Wohlbefinden, ist Gesundheit definiert (modern heisst das „wellness").

Das energetische Potential, das den Menschen durchströmt wird Qi genannt. Das Qi zirkuliert rhythmisch in den 14 „Leitbahnen" (Meridiane, jing mo). Der Begriff Qi bezieht sich auf die individualspezifische aktive Energie, wird aber je nach Lebensfunktion durch Adjektive genauer bestimmt (z.B. Abwehrenergie: Qi defensivum/ wei qi). Wichtige andere Begriffe der chinesischen Physiologie seien kurz erwähnt: Das Struktivpotential (jing), das Xùe (Blut, Säfte) oder die konstellierende Kraft shen, die die äussere Erscheinung, das Bewusstsein, Persönlichkeit schlechthin, darstellt.

Die Chinesen unterscheiden fünf „Funktionskreise" (orbes, zang fu), die nach Organen benannt sind, aber keinesfalls mit unseren anatomischen-physiologischen Begriffen gleichgesetzt werden dürfen: „Leber", „Milz", „Magen", „Lunge" und „Herz". So steht die „Leber" für Muskeln, Sehnen, den Bewegungsapparat, ist verantwortlich für den „weichen Fluss des Qi", sie speichert das Xùe, und ist im Emotionalen für Entscheidungen zuständig.

Durch innere und äussere Faktoren (Agentien) können Krankheiten entstehen. Äussere Faktoren sind die sechs klimatischen Exzesse (algor, ventus, ariditas, humor, aestus, ardor), sieben innere/emotionale Faktoren (z.B. Sorge, Trauer) werden unterschieden, auch Stress, Überarbeitung, Diätfehler und sexuelle Ausschweifungen gelten als Krankheitsursachen.

Im Beispiel bleibend ist der „Leber"-Funktionskreis besonders für ventus („Wind") anfällig, was sich in Symptomen wie roten Augen, Verspannungen und Neuralgien zeigt. Durch emotionale Blockade wird die Funktion der „weichen Qi-Verteilung" gestört, es kommt zu abdominellen Schmerzen, Dysmenorrhoe oder Schmerzen im Epigastrium.

In der differenzierten Befragung des Patienten interessiert sich der Arzt für die Beschwerden, weiter fragt er nach allen aktiven Lebensäusserungen, Emotionen, vitalen Körperfunktionen und Disharmonien, welche auf eine mögliche krankhafte Entgleisung des Individuums hindeuten. Gewertet werden auch alle Wahrnehmungen des Arztes durch Geruchs- und Tastsinn sowie die optische Wahrnehmung. Konkret bedeutet dies, dass z.B. Husten, laute oder leise Stimme, Gesichtsfarbe und Körpergeruch in die Diagnose miteingehen.

Besonders hervorzuheben ist die Zungendiagnostik, da sich in der chinesischen Physiologie mehrere der Funktionskreise hier abbilden. Durch Wertung der Farbe, Form und Grösse der Zunge und des Zungenbelags werden Rückschlüsse auf energetische Zustände und insbesondere den „Säftehaushalt" gezogen. Ein eindrückliches Beispiel kann jeder in der Klinik tätige Arzt bei alten moribunden Patienten sehen: Deren Zunge ist oft völlig ohne Belag, glatt, trocken und deutlich rot.

In den chinesischen klassischen Lehrwerken wird dies als totaler Verlust des Yin gewertet, als Folge dieses Verlusts „naht bald der Tod".

Herausragend ist auch die Pulsdiagnostik, bis zu 32 verschiedene Pulsqualitäten können unterschieden werden. So deutet ein „saitenförmiger Puls" oft auf eine „Wind"-Schädigung. Allerdings erfordert dieses Verfahren ausreichende Übung unter Anleitung, um die Pulsbilder richtig einzuordnen und zu werten.

Nach einem stringenten diagnostischen Prozedere („Acht Leitkriterien") werden alle Daten gesammelt, qualifiziert, Funktionskreisen zugeordnet und eine Diagnose gestellt.
   

    

Akupunktur
   

Die Akupunktur ist seit dem 17. Jahrhundert in Europa bekannt, wird seit ca.100 Jahren immer intensi-ver genutzt und ist spätestens seit den etwas quälerischen Demonstrations-Operationen unter „Akupunktur-Narkose" zu Zeiten der Kulturrevolution in aller Munde.

Die Wirksamkeit ist zumindest für Schmerzindikationen von der deutschen Bundesärztekammer anerkannt, dem wurde am 1.1.1996 auch durch die Aufnahme einer Akupunkturziffer in die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) Rechnung getragen. Von der WHO ist Akupunktur für eine Vielzahl von Indikationen empfohlen.

Nach den Erfahrungen der Altärzte fliesst das Qi in den 14 „Leitbahnen" von der Brust zu den Fingerspitzen,

von diesen zum Kopf und weiter an der Rückenseite zu den unteren Extremitäten. Höhlungen, Vertiefungen, Eingänge erlauben einen Zugang zu diesem Energiefluss-System, Orte, die wir vereinfachend „Aku-punkturpunkte" nennen. Sie erlauben eine Modulation des Qi-Flusses und eine Ausleitung „schrägläufiger" Energien mittels Nadeln, Moxibustion oder Tuina-Massage. Grundlage für eine erfolgreiche Therapie mittels Akupunktur ist eine vorher erfolgte chinesische Diagnose.
    

    

Arzneimitteltherapie
     
    
Weniger bekannt, aber bedeutender ist die Thera-pie mit chinesischen Arzneimitteln, ungefähr 80 % der Krankheiten werden so behandelt. Etwa 12’000 verschiedene Einzelmittel pflanzlichen, mineralischen oder tierischen Ursprungs sind in den Pharmakopöen bekannt. Überlicherweise werden zwischen 200 und 600 verschiedene Mittel benutzt. Die Einzelmittel sind nach „Geschmack", „Temperatur", Wirkrichtung und Funktionskreisbezug geordnet. Meist werden zwischen zwei und zehn Drogen zu einer Rezeptur gemischt, um die Wirkung zu optimieren und Nebenwirkungen zu vermeiden. Am effektivsten ist die Verabreichung als Abkochung der Kräuter („Dekokt").

Durch die extrem lange Erfahrung mit den meisten Drogen besteht eine hohe Arzneimittelsicherheit; durch die hochentwickelte Apothekerkunst werden zusätzlich unerwünschte Alkaloide entfernt. Aus der Wurzel des Eisenhuts (R. aconiti) wird durch wochenlanges Einlegen in Tofu-Milch das hochgiftige Aconitin gelöst, die anderen, weniger gefährlichen Alkaloide bleiben chemisch nachweisbar.

Als Arzneimittelbeispiel sei die Ingwerwurzel erwähnt. Sie ist als „warm", „scharf" und auf „Lunge" wie „Magen" wirkend qualifiziert. So kann sie im Fall einer „Kälte"-Schädigung (algor) wärmen und öffnen und die Erkältungssymptomatik bekämpfen.
     

   

Qi Gong, Diätetik
    
    
Durch eine genaue Beschreibung sämtlicher Nahrungsmittel, die analog den Arzneimitteln qualifiziert sind, lässt sich im Krankheitsfall nach der chinesischen Diagnose ein individueller Diätplan festlegen. Durch die bewegungstherapeutischen Übungen des Qi Gong („Arbeiten oder Üben am Qi") kann gezielt Einfluss genommen werden; dadurch wird einerseits Gesundheitsvorsorge betrieben, andererseits können Blockaden therapeutisch gelöst werden.
    

    

Fazit
   
     
Mit den oben beschriebenen Methoden, die keinen grossen apparativen Aufwand erfordern, kann eine patienten- und symptom-orienterte, subtile und wirksame Therapie durchgeführt werden, die ausserdem kostengünstig ist.

Voraussetzung ist eine Schulung des Arztes in der chinesischen Diagnostik, Akupunktur und Arzneimitteltherapie. Wichtig ist auch eine grösstmögliche Erfahrung des Behandlers.

Durch die gegenwärtige Entwicklung der TCM ergeben sich neben den grossen Chancen jedoch auch eine Reihe von Problemfeldern. Wesentliches Problem ist die Qualitätssicherung, die nur durch eine umfassende Ausbildung von Ärzten gewährleistet werden kann. Durchführung von klinischen Studien zum Wirksamkeitsnachweis, pharmakologische Kontrollen der Kräuter und die Überzeugung der verantwortlichen Gesundheitspolitiker sind weitere Aufgaben der zukünftigen TCM-Ärztegeneration.
    

    

Literatur, eine kleine Auswahl:
    
 
  1. D. Bensky/A. Gamble: Chinese Herbal Medicine, Materia Medica. 2nd edition, Eastland Press, 1993
  2. U.Engelhardt/C.H. Hempen: Die chinesische Diätetik, U & S, München, 1996 (im Druck)
  3. C.H. Hempen: Die Medizin der Chinesen, Bertelsmann, München, 1988
  4. C.H. Hempen: Dtv-Atlas-Akupunktur, Dtv, München, 1995
  5. Kaptchuk: The Web That Has No Weaver, Chinese Medicine, Hutchinson, London, 1983
  6. G. Macioca: The Foundations Of Chinese Medicine, Churchil Livingstone, New York 1989
  7. M. Porkert: Die theoretischen Grundlagen der chinesischen Medizin, Hirzel, Stuttgart, 1983
  8. M. Porkert: Neues Lehrbuch der chinesischen Diagnostik, Phainon, Dinkelscherben, 1994
  9. M. Porkert: Klinische Chinesische Pharmakologie, Vfm, Heidelberg, 1978
  10. Unschuld: Medizin in China, eine Ideengeschichte, Beck, München

Weitere Artikel finden Sie bei Publikationen

und zusätzliche Informationen bei

Grundlagen, Fachliteratur, Fachzeitschriften, Lehrgänge

© IMF